Digitale Öffentlichkeitsbeteiligung für eine gesundheitsfördernde Stadtentwicklung

Daniel Simon hsg Bochum, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department of Community Health

Prof. Dr. habil. Heike Köckler hsg Bochum, Professorin für Sozialraum und Gesundheit am Department of Community Health

Umweltschutz und Stadtentwicklung dienen oft auch dem Gesundheitsschutz. Viele Vorgänge sind hier gesetzlich geregelt und sehen Verfahren vor, in denen die Beteiligung der Öffentlichkeit verpflichtender Bestandteil ist. Bis heute sind offline Verfahren die übliche Beteiligungspraxis. Über die Jahre sind viele verschiedene Beteiligungsmethoden mit ganz eigenen Vor- und Nachteilen entstanden (vgl. Website Beteiligungskompass), die jedoch eines gemeinsam haben: Ihre Teilnehmer*innenzahl sowie ihr zeitlicher Rahmen sind stark begrenzt. Die üblichen Teilnehmer*innen von offline Beteiligungsformaten besitzen einen überdurchschnittlichen formellen Bildungsgrad, sind über 40 Jahre alt und oftmals schon vorher politisch aktiv oder thematisch interessiert. Hinter dieser Beteiligung liegen Zugangsbarrieren für diejenigen, die sich nicht einbringen. Um beispielsweise einen Wortbeitrag in einer öffentlichen Veranstaltung einzubringen sind ein gewisses Maß an Zutrauen bzw. positiver Selbstwirksamkeitserfahrung (Köckler, 2017) und bisweilen auch inhaltliche Vorkenntnisse nötig.

Chancen und Risiken von digitalen Verfahren

Das Digitale vermag die genannten Barrieren zumindest zu senken, indem die Beteiligung weitgehend von Ort und Zeit entkoppelt, Informationen bereitgestellt und die eigene Sichtweise unbeeinflusst am PC oder Smartphone eingebracht werden kann. Gleichzeitig können auf diese Weise strukturierte Rückmeldungen für die Planer*innen generiert werden und Ergebnisse müssen vor der Auswertung nicht erst mühsam digitalisiert werden.

Aber auch das Digitale hält Barrieren und Risiken bereit, die in jedem Anwendungsfall und im Kontext der Zielgruppe bedacht werden müssen. Hier seien zum einen technische Aspekte genannt, wie zum Beispiel die Notwendigkeit einer Registrierung, Inkompatibilität mit Mobilgeräten, eine schwierig zu bedienende Oberfläche sowie fehlerhafte Darstellungen auf kleinen Bildschirmen. Auf konzeptioneller Ebene, auf der man zwischen gesprächs- und abstimmungszentrierten Ansätzen unterscheidet, gibt es verschiedene Fallstricke. In abstimmungszentrierten Ansätzen wird beispielsweise von „Slacktivism“ gesprochen. Die Beteiligung wird hier so stark vereinfacht, dass Sie mit einem Klick erledigt ist und der Gesamtkontext oder die Auseinandersetzung mit dem Thema in den Hintergrund tritt. Die Beteiligung wird sozusagen „im Vorbeigehen“ erledigt. Gesprächszentrierte Ansätze hingegen können die in offline Verfahren existierende Barriere der Zurückhaltung durch mangelndes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten reproduzieren. Weitere Chancen und Risiken digitaler Beteiligung nach Sachs et al. 2018 finden sich in Tabelle 1.

Chancen Risiken
  • Steigerung der Beteiligung
  • Intensivierung politischer Beteiligung
  • Verbesserte Erreichbarkeit bestimmter Zielgruppen
  • Steigerung von Legitimität und Vertrauen
  • Demokratisierung von Informationen
  • Geringe Beteiligung oder Beteiligung trotz fehlender Sachkenntnis
  • Vergrößerung bestehender/Schaffung neuer Ungleichheiten
  • Beteiligungshürden
  • Nutzbarkeit und Vertrauen in Plattformen
  • Beschleunigung der deliberativen Demokratie
Tabelle 1: Chancen und Risiken digitaler Beteiligung (Zusammenfassung nach Sachs et al. 2018: 61-66)


Der DiPS-Ansatz

Die Potentiale digitaler Partizipation sollen mit dem Ansatz des DiPS erschlossen werden. DiPS steht hierbei für „Digitale Methoden der Partizipativen Sozialraumanalyse“ und lässt sich als ein Baukasten aus verschiedenen digitalen Tools verstehen. Diese können je nach Anwendungskontext auf verschiedene Weise miteinander kombiniert werden (vgl. Abb 1). DiPS-Anwendungen ermöglichen den Menschen eigene Sicht- und Handlungsweisen in ihrem Lebensumfeld aufzuzeichnen. Ziel ist es diese Sichtweisen für eine Verbesserung des Lebensumfeldes zu nutzen, also „Daten für Taten“ zu sammeln und nutzbar zu machen (Köckler & Simon, 2019). Kernstück ist in der Regel das Generieren von raumbezogenen Daten über kurze und teilstandardisierte Befragungen der lokalen Bevölkerung oder betroffenen Community. Um handlungsrelevante Ergebnisse zu erhalten, ist hier eine inhaltliche Gestaltung wichtig, die sich nah an den Möglichkeiten und Grenzen des jeweiligen Verfahrens orientiert. Die Methode soll keineswegs diskursive Elemente ersetzen. Vielmehr soll sie vorgelagert angewendet werden und diese bereichern. So unterstützt beispielsweise die Nutzung eines Maptables (Digitaler Kartentisch), als ein Element aus dem DiPS-Baukasten, Gruppendiskussionen.

Ein möglicherweise für Praktiker*innen interessantes Detail ist der Grundsatz, dass DiPS-Methoden soweit wie möglich auf freie bzw. Open Source Software zurückgreifen und diese kostenlos bis -günstig genutzt werden kann.

Abbildung 1 - Der DiPS-Baukasten
Abbildung 1: Der DiPS-Baukasten


Anwendung in der Lärmaktionsplanung Bochum

Ein Verfahren des Umweltschutzes ist die Lärmaktionsplanung. Zu dieser verpflichtet die EU-Umgebungslärmrichtlinie (Richtlinie 2002/49/EG) viele Städte in der EU. Demnach sind vornehmlich alle Ballungsräume regelmäßig zur Aufstellung bzw. Fortschreibung von Lärmaktionsplänen verpflichtet. Hier wird Umgebungslärm unterschiedlicher Quellen kartiert und Maßnahmen zu dessen Reduktion sowie dem Schutz ruhiger Gebiete vereinbart. Nachbarschaftslärm, Lärm am Arbeitsplatz, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Lärm aus militärischen Gebieten sind ausdrücklich nicht Gegenstand des Verfahrens. Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist in diesem Verfahren verpflichtender Bestandteil.

Für die Lärmaktionsplanung in Bochum (2018) wurde gemeinsam mit dem Umweltamt eine DiPS-Anwendung entwickelt und eingesetzt, in der die Bürger*innen geografisch verortete Angaben zu leisen und lauten Alltagsorten sowie dem Lärm am eigenen Wohnort machen konnten. Neben der Abfrage zur Lärmsituation am Wohnort wurden gesundheitsrelevante Faktoren wie Schlafstörungen, Nutzungseinschränkungen von Balkonen und Gärten sowie Strategien im Umgang mit Lärm abgefragt. Insgesamt wurden 655 gültige Datensätze – eine Steigerung um das Fünffache gegenüber der letztmaligen Online-Beteiligung in 2013 – übermittelt und im weiteren Verfahren genutzt (Köckler & Simon, 2020a). Die Anwendung war auf allen elektronischen Endgeräten nutzbar und verlangte keine Registrierung. Eine Demo ist hier einsehbar.

Digitale Beteiligung – Mehr und andere?

Wie eingangs beschrieben, liegt das große Potential digitaler Beteiligung in der, zumindest theoretisch, deutlich höheren Reichweite gegenüber offline Beteiligungsverfahren. Aber, und das ist eine oftmals zu Recht gestellte Frage, nützt die digitale Niedrigschwelligkeit auch den bisher unterrepräsentierten Teilen der Gesellschaft oder bekommen aktive Bürger*innen nur einen weiteren Einflusskanal an die Hand? Diese Frage muss zum aktuellen Zeitpunkt mit einem klaren „Jein“ beantwortet werden. Einerseits werden digitale Kanäle natürlich von den aktiven Bürger*innen genutzt. Ergebnisse der Evaluation der Bochumer Lärmaktionsplanung zeigen aber, dass niedrigschwellige Ansätze von bisher unterrepräsentierten Bürger*innen durchaus in Anspruch genommen werden. Eine bessere Repräsentation von marginalisierten Gesellschaftsgruppen gestaltet sich jedoch weiterhin als herausfordernd. Um sich dem Ziel eines größeren und diverseren Teilnehmer*innenkreises anzunähern, ist das Anbieten einer digitalen Beteiligungsmethode nur ein Aspekt. Neben inhaltlich-gestalterischen Überlegungen spielen Art und Umfang der Ansprache bzw. der Öffentlichkeitsarbeit genauso eine Rolle, wie die Einstellungen der Bürger*innen gegenüber politischer Beteiligung. Die DiPS-Methode vermag letzteres nicht direkt zu beeinflussen. Hinsichtlich der Möglichkeit zur niedrigschwelligen Beteiligung sind jedoch Potentiale vorhanden, die stetig und in verschiedenen Kontexten untersucht werden. So existiert beispielsweise eine DiPS-Photovoice Anwendung, die von jungen Erwachsenen mit verschiedenen körperlichen und kognitiven Einschränkungen für eine Sozialraumerkundung genutzt wurde (Köckler & Simon, 2020b). Ein weiteres Beispiel ist das aktuell laufende Projekt QUERgesund, welches sich mit gesundheitsförderlicher Quartiersentwicklung in einem multidiversen Bochumer Quartier befasst (Berchem et al., 2020).

Wir sehen im geschilderten Ansatz vor allem ein Potential die Beteiligung zugänglicher zu gestalten, „Daten für Taten“ zu schaffen und bestehende Datenbestände mit Sichtweisen und Erkenntnissen aus Communities zu bereichern.


Kontaktdaten
Daniel Simon
E-Mail: daniel.simon@hs-gesundheit.de

Prof. Dr. habil. Heike Köckler
E-Mail: Heike.koeckler@hs-gesundheit.de


Quellen
Berchem, D.; Betscher, S.; Falge, C.; Gilges, G.; Gorch, D.; Köckler, H.; Pajonk, Y.; Simon, D. & Strauss, A. (2020). Zwischenbericht zur Studie QUERgesund in der Bochumer Hustadt. Das Präventionsverhalten einer multidiversen Nachbarschaft: Gesundheitsbezogene Ressourcen, Barrieren und Handlungsempfehlungen.

Köckler. H. & Simon, D. (2020a). Digitale Beteiligung im Rahmen der Lärmaktionsplanung als Ansatz für mehr umweltbezogene Verfahrensgerechtigkeit: Erfahrungen aus dem DiPS_Lab in Bochum. In. IPP Schriften 17, 38-44. Bremen: IPP

Köckler, H. & Simon, D. (2020b). Sozialraumerkundung: Mit der Photo-Voice-Methode Menschen mit Behinderung eine Stimme geben. In: Ich selbst? Bestimmt! : Selbstbestimmtes Wohnen mit hohem Unterstützungsbedarf. Düsseldorf: Bundesverband f. körper- und mehrfachbehinderte Menschen.

Köckler, H., & Simon D. (2019). Digitale Methoden der partizipativen Sozialraumanalyse. In Posenau, A; Deiters, W.; Sommer, S. Nutzerorientierte Gesundheitstechnologie. Hogrefe.

Köckler, H. (2017). Umweltbezogene Gerechtigkeit: Anforderungen an eine zukunftsweisende Stadtplanung. Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften.

Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Juni 2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm

Sachs, M., Goraczek, M., Rinnerbauer, B. & Schoßböck, J. (2018). Elektronische Bürgerbeteiligung in der Praxis. In Leitner M., Sachs, M. (Hrsg.). Digitale Bürgerbeteiligung (S. 41-68). Springer Vieweg, Wiesbaden.

Website Beteiligungskompass