Die Bedeutung Digitaler Teilhabe von Menschen mit zugeschriebener geistiger Beeinträchtigung im Gesundheits- und Sozialwesen

Dr. Joanna Albrecht Universität Siegen, Lebenswissenschaftliche Fakultät, Department Digitale Gesundheitswissenschaften & Biomedizin

Dr. Dirk Bruland Hochschule Bielefeld, Institut für Bildungs- und Versorgungsforschung im Gesundheitsbereich

Dr. Nadine Hüning Regionalleitung, Stiftung Bethel | Bethel.regional, Region Bielefeld-Nord

Hintergrund

Die Digitalisierung hält unausweichlich Einzug in alle Lebensbereiche. Mehr und mehr Tätigkeiten werden online vorgenommen: das Bereitstellen von Informationen, Kommunikation, Bildung, Beschäftigung und Freizeitgestaltung. Seit den letzten Jahren wird die Digitalisierung im Gesundheitswesen zunehmend gefördert. Zu nennen sind beispielhaft ‚digitale Gesundheitsapplikationen‘ (DiGAs) im Rahmen des Digitale-Versorgung-Gesetzes für telemedizinische Leistungen, also Gesundheitsanwendungen als App auf Rezept. Digitalisierung ermöglicht neue und innovative Möglichkeiten, jedoch bedeuten sie für bestimmte Bevölkerungsgruppen neue Hürden. Die digitale Spaltung der Gesellschaft wird als ‚digitale Kluft‘ bezeichnet.

Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung*

Geistige Behinderung ist ein Zustand, der durch erhebliche Einschränkungen der intellektuellen Fähigkeiten (IQ < 85) sowie von Alltagsfertigkeiten gekennzeichnet ist und sich in der Kindheit manifestiert1. Menschen mit zugeschriebener geistiger Beeinträchtigung‘ (MgB) erleben Einschränkungen in ihrer Fähigkeit, komplexe Informationen zu verstehen und anzuwenden, was ihre Unabhängigkeit und soziale Kompetenz beeinträchtigt. Die Beeinträchtigung wird als bio-psycho-soziales Konstrukt verstanden, bei dem Teilhabe eine zentrale Rolle spielt. Die gesetzlich relevante internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) beleuchtet Behinderungen als Resultat der Wechselwirkung zwischen dem individuellen Gesundheitsstatus, personenbezogenen Faktoren (z. B. Alter, Geschlecht, Einstellungen) und Umweltfaktoren (z. B. gesellschaftliche Barrieren).

Digitale Kluft

Die Forschung zur digitalen Kluft bestätigt, dass insbesondere MgB von einer zweifachen digitalen Kluft betroffen sind: ungleiche technische Zugangsmöglichkeiten und ungleiche Selbstständigkeit zum Zwecke der Internetnutzung. Diese Barrieren beeinträchtigen ihre Teilhabe am Gesundheits- und Sozialwesen erheblich und konfrontieren sie zusätzlich mit spezifischen Herausforderungen, die eng mit ihren Beeinträchtigungen verknüpft sind. Eine weitere zentrale Rolle hat die ungleiche Verfügbarkeit von Unterstützung im Umgang mit digitalen Technologien2. So kann die Umstellung von telefonischer Terminvergabe auf ein Online-Angebot zur Terminvergabe bei Gesundheitsangeboten erheblichen Einfluss auf die selbstständige Inanspruchnahme haben, vor allem, wenn keine bedarfsgerechten Ersatzangebote zur Verfügung stehen. Solange die notwendigen Voraussetzungen für Digitale Teilhabe nicht gegeben sind, verstärkt die Digitalisierung nicht nur die Möglichkeiten der Teilhabe, sondern auch bestehende soziale Ungleichheiten. Dies führt zu einer weiteren sozialen Exklusion und verschärft bereits bestehende Ungleichheiten.

Trotz der beschriebenen digitalen Kluft nutzen immer mehr Menschen mit geistiger Beeinträchtigung digitale (Gesundheits-)Angebote. In einer Sekundärdatenanalyse von zwei Forschungsprojekten wurden Interviews erneut ausgewertet mit dem Fokus auf Dimensionen von Gesundheitskompetenz. Dabei wurden ‚digitale Interaktionen‘ in allen Dimensionen genannt, jedoch von den Befragten in einem sehr unterschiedlichen Nutzungsgrad4. In der Praxis ist das Thema der digitalen Teilhabe hochaktuell und nimmt bereits einen nicht zu unterschätzenden Raum ein.

Digitale Teilhabe

„Digitale Teilhabe bedeutet das Eingebundensein in eine Lebenssituation durch die multidimensionale Teilhabe an, durch und in digitalen Medien sowie Technologien. […] Für … MgB [Anm. der Autor:innen] wird Digitale Teilhabe als Möglichkeit gesehen, vor allem beeinträchtigungsbedingte Teilhabebarrieren zu kompensieren sowie gesellschaftlich und politisch teilzuhaben. Eine wichtige Voraussetzung dabei ist das Vorhandensein von Medienkompetenzen bei MgB und den Bezugspersonen“2. Die nachfolgenden Darstellungen der digitalen Teilhabe, so ist anzunehmen, gelten ebenfalls für die Teilhabe am Gesundheits- und Sozialwesen. Albrecht und Hüning2 entwickelten mittels eines komplexen Forschungsdesign ein Modell zur digitalen Teilhabe von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.

Was wird die Zukunft bringen?

Die Zukunft von KI und eHealth in Deutschland verspricht eine Neuausrichtung des Gesundheitswesens. Künstliche Intelligenz wird eine zentrale Rolle in der Diagnose und personalisierten Behandlung übernehmen, indem sie Muster in großen Datenmengen erkennt und Ärzt:innen bei der präziseren medizinischen Entscheidungsfindung unterstützt. Der flächendeckende Ausbau der Telemedizin wird den Zugang zur medizinischen Versorgung, besonders in ländlichen Gebieten, erheblich verbessern. Ebenso werden Fortschritte bei Wearables und smarten Geräten eine kontinuierliche und genaue Überwachung von Gesundheitsdaten erlauben. Von besonderer Bedeutung ist die Usability der eHealth-Anwendungen. So werden zum Beispiel elektronische Gesundheitsakten benutzerfreundlicher und umfassender, was den effizienten Austausch von Patient:innendaten fördert. Zudem werden die Gesundheits-Apps weiterentwickelt, um Patient:innen aktiv in ihre Gesundheitsversorgung einzubeziehen und die Mitwirkung der Patient:innen – das sog. „Patient Empowerment“ – zu verbessern, was vor allem bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen sehr wichtig ist. Insgesamt werden KI und eHealth die Qualität und Effizienz des deutschen Gesundheitssystems steigern und eine patient:innenzentriertere Versorgung ermöglichen.

Abbildung 1: Modell – Digitale Teilhabe für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung in der Eingliederungshilfe.
Abbildung 1: Modell – Digitale Teilhabe für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung in der Eingliederungshilfe2


Das Modell Digitaler Teilhabe bietet eine umfassende Darstellung Digitaler Teilhabe von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung (MgB) innerhalb der Eingliederungshilfe. Dieses zyklische Modell verdeutlicht die Wechselwirkungen und Zusammenhänge verschiedener Einflussfaktoren, die digitale Teilhabe beeinflussen. Das Modell besteht aus zwei wesentlichen

Faktorenebenen:

  • Teilhabe in der Gesellschaft in drei ausschlaggebenden Dimensionen: Dieses Zusammenspiel beschreibt, wie digitale Teilhabe als Bestandteil der gesellschaftlichen Teilhabe fungiert.
  • Einflussnehmende Faktoren: Diese umfassen personenbezogene, umweltbezogene und technologiebezogene Faktoren.

Digitale Teilhabe lässt sich dabei in drei Dimensionen unterteilen:

  • Teilhabe an digitalen Technologien bezieht sich auf den Zugang zu Hardware, Software und Infrastruktur, der möglichst zielgruppenorientiert und gleichberechtigt gestaltet ist und geringe strukturelle Voraussetzungen erfordert. Ziel ist es, beeinträchtigungsbedingte Barrieren abzubauen. Dies beinhaltet die Bereitstellung erschwinglicher und niedrigschwelliger digitaler Technologien wie Computer, Tablets oder Smartphones sowie den Zugang zu schnellem und zuverlässigem Internet. Benutzerfreundliche Software und die Förderung von Medienkompetenzen tragen dazu bei, dass Menschen digitale Technologien selbstständig und selbstbestimmt nutzen können.
  • Teilhabe durch digitale Technologien beschreibt die aktive Nutzung digitaler Werkzeuge, um Zugang zu verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Aktivitäten zu schaffen. Dies umfasst beispielsweise die Teilnahme an Online-Bildungsangeboten über E-Learning-Plattformen, um Informationen zu gewinnen und Bildungsbarrieren zu überwinden. Digitale Kommunikationsmittel wie Talker können die soziale Interaktion und Vernetzung verbessern. Ebenso ermöglicht der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen über E-Government-Dienste eine umfassende Teilhabe.
  • Teilhabe in digitalen Technologien bezieht sich auf die aktive Gestaltung und Partizipation in Prozessen und Interaktionen innerhalb digitaler oder virtueller Räume. Dies umfasst die Erstellung multimedialer Inhalte wie Blogs, Videos und Beiträge in sozialen Medien sowie den aktiven Austausch in Online-Communities und -Foren. Darüber hinaus können Menschen digitale Plattformen und Anwendungen aktiv mitgestalten, was ihre Teilhabe weiter stärkt.

Die potenziellen Einflussfaktoren digitaler Teilhabe werden in drei Kategorien unterteilt:

  • Personenbezogene Faktoren umfassen soziodemografische und sozioökonomische Merkmale, gesundheitliche Ressourcen, digitale Kompetenzen und Technikakzeptanz. Beispielsweise kann ein höheres Alter die Nutzung digitaler Technologien erschweren, während ein höherer Bildungsgrad die Internetnutzung fördert.
  • Umweltbezogene Faktoren beziehen sich auf den Wohn- und Betreuungskontext, Unterstützung durch soziale Strukturen, digitale Kompetenzen der sozialen Strukturen, Technikakzeptanz und gesellschaftliche Rahmenbedingungen.
  • Auf digitale Technologie bezogene Faktoren beinhalten den technischen Zugang, die Beschaffenheit von Hard- und Software sowie die Aufbereitung der Inhalte. Eine unzureichende technische Ausstattung oder komplexe Benutzeroberflächen können die digitale Teilhabe erheblich behindern.

Das Modell bietet eine erste umfassende Beschreibung der digitalen Teilhabe von MgB und operationalisiert die potenziellen Einflussfaktoren in den drei Dimensionen der digitalen Teilhabe. Es zeigt, dass die Einbindung in eine Lebenssituation durch die multidimensionale Teilhabe an, durch und in digitalen Technologien erreicht wird. Dies erfordert einen zielgruppenorientierten und gleichberechtigten Zugang zu digitalen Ressourcen sowie die Förderung von Medienkompetenzen.

Aktuelle Bestrebungen und Erkenntnislücke

Für Organisationen in der Eingliederungshilfe ist die Digitale Teilhabe höchst relevant. Das dargestellte Modell stellt ein umfangreiches Fundament für die Förderung digitaler Teilhabe dar. Bundesweit werden diverse Projekte bereits umgesetzt, um Online-Dienste anzubieten, um den spezifischen Bedarfen von MgB gerecht zu werden. Beispielhaft zu nennen sind u. a. das Projekt #Leichtonline der Lebenshilfe Hamburg, die u. a. mithilfe von Usability-Tests herausfinden, wie Internetseiten und Apps gestaltet sein müssen, damit sie ohne Barrieren zugänglich sind. Die FH Kiel hat eine Gesundheits-App für und gemeinsam mit Menschen mit Alphabetisierungsbedarf entwickelt, die Informationen mittels Video- und Audioformaten in einfacher Sprache zur Verfügung stellt. Hierüber werden Zugangsbedingungen zu Informationen zielgruppengerecht modifiziert. Das eine digitale Stärkung von MgB erreicht werden kann, zeigte u. a. das Projekt #ROOKIE (Laufzeit 2020 – 2022), wo nach den Maßnahmen signifikant mehr technische Geräte genutzt wurden und die Medienkompetenz deutlich zunahm.

Dennoch fehlen aktuell genaue Erkenntnisse zur Nutzung von digitalen Angeboten in Verbindung mit Gesundheit und dessen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten bei MgB.

Fazit

Um eine inklusive Gesellschaft im Gesundheits- und Sozialwesen zu gewährleisten, ist die Förderung Digitaler Teilhabe unerlässlich, vor allem mit Blick auf die aktuellen Bestrebungen im Gesundheitswesen. Zur Umsetzung bedarf es personenzentrierter Ansätze, die individuelle Lebenshintergründe der MgB berücksichtigen und auf die Förderung einflussnehmender Faktoren abzielen:

  • Verbesserung der technischen Zugangsmöglichkeiten: Bereitstellung von erschwinglichen und niedrigschwelligen digitalen Technologien sowie Internetzugang.
  • Angebote zur Kompetenzschulung: Entwicklung von Angeboten zum Aufbau digitaler Kompetenzen für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung sowie dem unterstützenden sozialen Umfeld. Mit Blick auf die Nutzung digitaler Gesundheitstechnologien ist die Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz essenziell.
  • Sensibilisierung und Bewusstseinsförderung: Förderung einer positiven Haltung gegenüber digitalen Technologien und deren Potenzial zur Inklusion bei allen beteiligten Akteuren.
  • Leistungsbezogene Unterstützungangebote: Bereitstellung von gesetzlich verankerten Unterstützungsangeboten zur Förderung Digitaler Teilhabe, die individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen gerecht werden.

Einen positiven Effekt auf die Nutzung von digitalen Gesundheitsanwendungen ist in höchstem Maße anzunehmen. Bislang fehlen wie bereits genannt Erkenntnisse, da Medienkompetenzen- und Gesundheit(skompetenzen) bei MgB zumeist noch getrennt gedacht werden. Das dreijährige Forschungsprojekt DGeKo MmgB hat sich nun auf dem Weg gemacht, um hier gewinnbringende Erkenntnisse zu sammeln.

Hinweis/Literatur

*Zur unmissverständlichen Bestimmung des Personenkreises wird hier der Begriff Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung genutzt. Zur Diskussion des Begriffes siehe3.

1AAIDD – American Association on Intellectual and Developmental Disabilities (2024). Defining Criteria for Intellectual Disability. https://www.aaidd.org/intellectual-disability/definition/, eingesehen am 29.07.2024.

2Albrecht, J., Hüning, N. (2024). Digitale Teilhabe von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung: Entwicklung einer Definition, eines Modells und eines Erhebungsinstruments. Springer VS, Wiesbaden.

3Schuppener S., Schlichting H, Godlbach, A., Hauser, M. (2021). Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung. Kohlhammer, Stuttgart.

4Vetter N.S., Ilskens, K., Seidl, N., Latteck, Ä.-D., Bruland, D. (2022). Health Literacy of People with Intellectual Disabilities: How Meaningful Is the Social Context for a Target Group-Oriented Model of Health Literacy? International Journal of Environmental Research and Public Health, 19(23),16052. https://doi.org/10.3390/ijerph192316052

Kontakt
Dr. Joanna Albrecht
Universität Siegen, Lebenswissenschaftliche Fakultät, Department Digitale Gesundheitswissenschaften & Biomedizin
joanna.albrecht@uni-siegen.de

Dr. Dirk Bruland
Hochschule Bielefeld, Institut für Bildungs- und Versorgungsforschung im Gesundheitsbereich
dirk.bruland@hsbi.de

Dr. Nadine Hüning
Regionalleitung, Stiftung Bethel | Bethel.regional, Region Bielefeld-Nord
nadine.huening@outlook.de