Der digitale Gesundheitsdschungel

Gesundheitskommunikation und -kompetenz 4.0

Thomas Altgeld Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Nds. e. V.

Die Covid-19-Pandemie bedeutet einen ungeheuren Schub für die Suche nach Gesundheitsinformationen im Internet. Nachrichten, Podcasts und Videos werden tausendfach gelesen, gehört, gelikt. Die Anzahl der Follower des Robert-Koch-Instituts bei Twitter explodierte von knapp 20.000 im Januar 2020 auf mittlerweile 310.000. Die ersten Podcasts des Virologen Christian Drosten, die vom NDR produziert werden, hatten bereits am 20. März 2020 mehr als 15 Millionen Abrufe insgesamt. Ein noch größerer Erfolg gelang der deutschen Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim mit einem Erklär-Video zur Pandemie Anfang April 2020, das innerhalb von vier Tagen mehr als 4 Millionen Aufrufe hatte und zeitweise Nummer 1 der YouTube-Trends war.

Zwischen seriöser Aufklärung und Verschwörungstheorien

Aber Corona hat auch die Kehrseite der digitalen Gesundheitskommunikation vor Augen geführt. Auch Fakenews „trenden“ und verbreiten sich viral in Windeseile. Falschnachrichten und Verschwörungstheorien rund um das Virus boomen genauso wie seriöse Versuche, dagegen anzuarbeiten. Im Wesentlichen lassen sich diese digitalen Corona-Fakenews in vier Kategorien aufteilen:

  • Verschwörungstheorien („Das Virus kommt aus einem Labor machtversessener Eliten, insbesondere von Bill Gates“)
  • Verharmlosung („Corona ist nicht schlimmer als eine herkömmliche Grippe“)
  • Zweifelhafte Alltagstipps („Intervallfasten, Sonnenbaden oder regelmäßiger Alkoholkonsum schützen vor dem Virus“)
  • Panikmache („Supermärkte schließen bald ganz“ – „Der Impfstoff wird nicht für alle reichen“)

Ist die Digitalisierung also Fluch oder Segen für die Kommunikation rund um Gesundheitsthemen und für die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung?

Kontinuierlich steigende Nutzungszahlen

Im Jahr 2018 – und damit noch deutlich vor dem Corona-Lockdown – lag die durchschnittlich im Internet verbrachte Zeit in Deutschland bei 196 Minuten pro Tag. Im Jahr 2000 waren es noch ganze 17 Minuten. Besonders stark ist die durchschnittliche Nutzungsdauer des Internets pro Tag in der Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen gestiegen, um mehr als eine Stunde von 183 Minuten pro Tag im Jahr 2017 auf 258 Minuten in 2018. Die allerhöchste Nutzungsdauer mit durchschnittlich 344 Minuten (also knapp 6 Stunden) pro Tag wurde in der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen ermittelt1. Bei 14 bis 49-Jährigen sind mittlerweile nahezu 100 Prozent regelmäßige Internetnutzer. In der Gesamtbevölkerung beträgt der Anteil 86 Prozent, wobei vor allem die Altersgruppen 70plus deutlich weniger digital unterwegs sind. Obwohl sie eine besondere Risikogruppe in der Pandemie darstellen, sind gerade sie es, die von digitalen Entwicklungen wie der Corona-Warn-App abgehängt sind, weil sie entweder gar kein Smartphone oder nur ältere Geräte besitzen.

Kickbusch3 beschreibt die Motivation der Nutzer, digitale Angebote, inklusive Apps, zu nutzen, wie folgt:

  • Menschen wollen Information
  • Sie wollen sich selbst diagnostizieren
  • Sie wollen mehr über ihren Arzt und das Gesundheitssystem wissen und mitreden
  • Sie wollen Zugang zu ihren Gesundheitsdaten
  • Sie wollen Vernetzung

Die Bertelsmann-Stiftung hat Gesundheit-Apps deshalb als „bedeutenden Hebel für Patientenempowerment“ charakterisiert4. Insgesamt werden mit diesen Entwicklungen die Grenzen zwischen Laien und Professionellen nicht nur im Themenfeld Gesundheit fließender.

Ein Boom-Markt für digitale Angebote

Kritisch ist dabei die Frage nach der Qualität der Gesundheitsinformationen, die digital vermittelt werden. Der Markt für digitale Angebote war in Deutschland bislang ungeregelt und gerade der Markt für Apps und Wearables boomt. Die genaue Anzahl der Apps und digitalen Anwendungen lässt sich auch aufgrund ihrer teilweise sehr kurzen Halbwertszeit, bevor sie wieder vom Markt verschwinden, nur sehr schwer beziffern. Weltweit variieren die Zahlenangaben deshalb von 100.000 bis über einer Million. Ein riesiger Markt ist hier entstanden – sei es für einfache Fitness- und Lifestyleanwendungen, Gesundheitstagebücher oder auch komplexe Programme zur Diagnostik und Therapie. Manche wie zum Beispiel digitale Depressions-Coaches basieren auf Künstlicher Intelligenz (KI) und sind lernende Programme, die auf ihre Nutzer reagieren und dadurch passgenauer werden. Andere Apps arbeiten mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Techniken, leiten Atemübungen oder Meditation an oder versuchen mit anderen Übungen das Wohlbefinden zu steigern. Die Urheber allerdings sind kaum transparent. „Es herrscht auf Seiten der Anbieter eine Goldgräberstimmung und so drängen viele Anbieter auf den Markt, deren Ursprünge nicht unbedingt im Gesundheitssektor liegen. Kommerzielle Anbieter finden sich hier ebenso wie private Entwicklerinnen und Entwickler, die aus eigenem Antrieb eine App entwickeln und anbieten.“2

Qualitätsstandards sind weder verbindlich definiert noch in den meisten Fällen überhaupt vorhanden. Mit dem am 7. November 2019 vom Bundestag beschlossenen Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) sollen digitale Innovationen schnelleren Zugang in die medizinische Versorgung finden und transparenter in ihrer Wirksamkeit gemacht werden. Zu den beschlossenen Neuerungen gehört unter anderem ein Zulassungsverfahren für „Medical Apps“ über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), so dass Ärzte in Zukunft gesetzlich Versicherten zugelassene Apps verschreiben können. Die Grenzen zwischen Wellnessanwendungen und Medizinprodukten wurden damit gesetzlich geregelt. Allerdings wird das Gros der Apps wahrscheinlich auch zukünftig nicht auf diese Art von Qualitätsprüfung und Erstattungsfähigkeit durch gesetzliche Krankenkassen setzen, sondern sich urwüchsig am Markt positionieren.

Gesundheitskompetenz und Digital Divide

Gerade in einem so großen Boommarkt stellt sich Frage nach Qualität und realem Gesundheitsnutzen vieler Angebote. Die Halbwertszeit vieler Entwicklungen ist ohnehin sehr kurz. Auch variiert der Nutzungsgrad nach Gesundheitsbewusstsein und Bildungsgrad. Mit der zunehmenden Digitalisierung von Präventionsangeboten war von Seiten der Präventionsakteur*innen zwar auch die trügerische Hoffnung verbunden, dass sich auf diesem Wege möglichweise doch die sogenannten „Zielgruppen“ erreichen lassen, die ansonsten als schwer erreichbar gelten.

Große Präventionseinrichtungen präsentieren ihre Materialien und Botschaften allerdings praktisch unverändert auch über soziale Medien und sind dabei kaum darauf eingestellt, dass dort tatsächlich dann auch Kommunikation in sozialen Medien stattfindet. Die Kommentierungen großer Programme wie beispielsweise „Alkohol – Kenn dein Limit“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) auf Instagram, Twitter oder Facebook sind häufig gegenläufiger oder lächerlich machender Natur. Ein Nutzer mit dem Namen „teamvollsuff“ kommentierte beispielsweise zu einem Kenn-Dein-Limit-Kampagnenmotiv, auf dem zwei Bierflaschen zu sehen sind: „Endlich mal richtige Bilder, auf denen gescheit gesoffen wird“5. Die beauftragten Agenturen können kritische Kommentare gar nicht so schnell löschen oder neu kommentieren, wie sie dort immer wieder auftauchen.

Das von Bauer bereits 2006 beschriebene „Präventionsdilemma“6 setzt sich digital praktisch fort. Durch das Gros der digitalen Präventionsangebote werden vor allem die Bevölkerungsgruppen mit ohnehin besseren Gesundheitschancen erreicht. Die Unterschiede in Gesundheitsverhalten, -bewusstsein und -outcome werden in der digitalen Welt nicht geringer, sondern vergrößern sich vielleicht sogar noch.

„Must have“: Qualitätsstandards definieren, Medienkompetenz stark verbessern

Die Herausforderungen digitaler Gesundheit sind also vielfältig. Für die Gesundheitsberufe selbst bedeutet dies vor allem, sich auf das veränderte Informationssuchverhalten von Menschen einzustellen, die eigene Onlinekompetenz zu erhöhen und auch die eigene Präsenz im Internet zu reflektieren und bei Bedarf anzupassen. Eine besondere Herausforderung für Politik und Gesundheitsberufe wird sein, Navigationshilfen anzubieten und Qualitätsstandards zu definieren, weil Medien- und Gesundheitskompetenz miteinander korrespondieren.


Quellenverweise
1 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1388/umfrage/taegliche-nutzung-des-internets-in-minuten/, Zugriff 8/2020
2 Albrecht & Jan, 2016, https://publikationsserver.tu-braunschweig.de/receive/dbbs_mods_00060007, Zugriff 2/2020
3 https://sagw.ch/fileadmin/redaktion_sagw/dokumente/Veranstaltungen/2019/Macht_des_Patienten/PowerPoint/Ilona-Kickbusch_Gesundheitskompetenz.pdf, Zugriff 8/2020
4 https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/SpotGes_Gesundheits-Apps_dt_final_web.pdf, Zugriff 8/2020
5 vgl. https://www.instagram.com/alkohol_kenndeinlimit/?hl=de, Zugriff 7/2020
6 Bauer, Ulrich (2005): Das Präventionsdilemma. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.w