Digitalisierung in der Corona-Krise – Perspektive 65+

Dagmar Hirche Vorstandsvorsitzende und Mitgründerin des Vereins Wege aus der Einsamkeit e. V.

Die Digitalisierung hält seit Jahren Einzug in immer mehr Lebensbereiche. Die aktuelle Corona-Krise verstärkt diesen Trend und wirkt als Beschleuniger des digitalen Fortschrittes sowohl in der Berufswelt als auch in anderen Bereichen des Alltags: Zoom-Meetings, WhatsApp-Video-Calls, die Corona-Warn-App, Online-Anmeldungen für Freizeit- und Kulturangebote – dies sind nur beispielhafte digitale Anwendungen, mit denen wir uns alle in den letzten Monaten verstärkt beschäftigen bzw. auseinandersetzen. Doch was ist mit älteren Menschen, die nicht digital aufgewachsen sind? Wie erlebt die Generation 65+ diese Entwicklungen und Trends? Werden sie in der Corona-Krise digital abgehängt? Und welche gesundheitlichen Auswirkungen erlebt die Generation 65+ durch den digitalen Wandel?

Wir haben dazu mit Dagmar Hirche, Vorstandsvorsitzende und Mitgründerin des Vereins Wege aus der Einsamkeit e. V. ein Interview geführt. Der Verein setzt sich dafür ein, die gesellschaftliche und digitale Teilhabe von Senior*innen voranzutreiben. Er hat sich auf die Agenda geschrieben, dem Alter ein positives Image zu verleihen. Digitalisierung spielt dabei eine besondere Rolle. Dagmar Hirche und ihre Mitstreiter*innen fordern, dass digitale Bildung nicht vor Älteren Halt macht und Menschen jenseits der 65 einen Zugang zur digitalen Welt erhalten. Dafür wurden u.a. Erklär-Video-Reihen erstellt, die Senior*innen den Umgang mit Smartphones, Tablets & Co. erklären. Seit neuestem veranstaltet der Verein auch Zoom-Partys, auf denen u.a. Spiele gespielt oder Lesungen gehalten werden und die Generation 65+ in den Austausch kommt.

Wie erlebt die Generation 65+ die neuen digitalen Anwendungen und Technologien?

Ältere Menschen, die bereits geübte Onliner*innen waren, konnten in der Corona-Zeit vieles digital anwenden. Diejenigen, die noch nicht so viel Erfahrung haben, brauchten viel Unterstützung, die schwer zu erhalten war. Wir haben aus diesem Grund angefangen, viele Erklär-Videos zu drehen und diese online zu stellen und telefonische Hilfe bei Fragen rund um das Smartphone zu geben. Wir bieten seit Ende März auch digitale, kostenfreie ZOOM „Versilberer Runden“ an, mit ganz unterschiedlichen Themen, wie zum Beispiel Onlineeinkaufen, Onlinebanking, YouTube, Mediatheken, Audiotheken und Fahrkarten online erwerben, da ein Kauf in den Bussen nicht möglich war. Aber auch Unterhaltung und Informationen waren extrem wichtig, so haben wir Lesungen, Vorträge, Sitz Yoga, Sport und auch „Versilberer Partys“ angeboten.

Schwierig ist leider die Beteiligung von älteren Menschen, die zwar Interesse, aber noch keinerlei Erfahrungen mit digitalen Anwendungen haben oder denen die technische Ausstattung fehlt. Menschen, die aus finanziellen Gründen kein WLAN, keinen Laptop und kein Smartphone haben, verlieren wir komplett, auch wenn sie eigentlich gern teilnehmen würden. Und es gibt natürlich auch Ältere, die gar kein Interesse haben und sich in gewisser Weise aus der digitalen Welt ausgrenzen.

Haben digitale Angebote für die Generation 65+ in den letzten Monaten an Bedeutung gewonnen?

Als wir am 25.3.2020 mit unseren ZOOM Versilberer Runden gestartet sind, haben uns viele Teilnehmende mit Tränen in den Augen erzählt, wie glücklich sie sind, nun wieder mit anderen Menschen sichtbar in Kontakt zu sein. Sie hätten nun wieder einen Grund aufzustehen, da sie wieder eine Tages-Struktur hätten. Das hat uns sehr überrascht und auch berührt. In der Runde ist eine enorme Gemeinsamkeit entstanden, völlig unabhängig wo die Teilnehmer*innen wohnten. Viele haben sich dann auch untereinander unterstützt.

Am Telefon haben wir auch altersarme Menschen, die völlig verzweifelt waren, da sie sich isoliert fühlten und kein Geld hatten, um bei uns teilzunehmen, da sie ja nicht zu den WLAN Hotspots gehen konnten. Seitdem Cafés und Bücherhallen wieder geöffnet haben, können ältere Menschen dort über das WLAN auch wieder an Angeboten wie unseren Versilberer Runden teilnehmen.

Selbstportrait von Frau Dagmar Hirche

Wie schätzen Sie die Akzeptanz der Corona-App in der Gruppe 65 + ein?

Wie in allen Altersgruppen gibt es Gegner*innen und Befürworter*innen. Was in unseren Augen gar nicht geht, dass Nutzer*innen von älteren Smartphones – und das sind oft die Älteren und die finanzschwachen Menschen – automatisch von der Nutzung ausgeschlossen sind. Wir haben einmal unsere Zoom-Teilnehmer*innen dazu befragt, das heißt, diejenigen, die an sich digital „unterwegs“ sind: Die Befragten sind zwischen 65 und 88 Jahren und von ihnen haben 50% die App bereits, 20% wollen sie nicht nutzen, 10% wissen es noch nicht und bei 20% sind die Smartphones zu alt oder haben nicht genügend Speicherkapazität. Was auch fehlt sind zielgerichtete Schulungen mit entsprechendem Austausch für Menschen 65+. Wir versuchen dies in unseren Runden anzubieten.

Was muss sich zukünftig ändern, damit die Generation 65+ nicht abgehängt wird?

Es muss sich auf verschiedenen Ebenen etwas ändern: Wichtig ist, dass in jeder Stadt, in jedem Stadtteil, Quartier und in der Nachbarschaft niedrigschwellige, kostenfreie Schulungsmöglichkeiten für die Generation 65+ angeboten werden. Damit auch Offliner*innen auf diese Angebote aufmerksam werden, müsste ebenso in Printmedien, im Radio oder im TV verstärkt auf die digitalen Angebote hingewiesen werden. Ich denke, die Wirtschaft, Behörden, Banken, Politik, Krankenkassen, die vieles nur noch digital anbieten, müssten ebenso verpflichtet werden, sich in diesem Bereich stärker zu engagieren.

Aus unserer Sicht sollte darüber hinaus in ganz Deutschland flächendeckend Internet zur Verfügung gestellt werden. Menschen in schwierigen ökonomischen Lagen, die beispielsweise Grundsicherung bekommen, sollten Unterstützung zur Anschaffung von Hardware und WLAN erhalten – egal ob sie jung oder alt sind.

Alle Schulen, Altenheime, Flüchtlingsunterkünfte, Krankenhäuser, Pflegeheime, öffentliche Räume/Häuser müssen mit kostenlosen WLAN ausgestattet werden.

Unser Verein setzt sich dafür ein, dass Menschen 65+, die noch keine digitalen Schritte gewagt haben, ermutigt und auch unterstützt werden, diese zu gehen. Die Digitalisierung schreitet immer mehr voran und man kann sich kaum davor verschließen. Gleichzeitig ist sie eine Chance für das soziale Miteinander, wie wir in der Corona-Krise sehen. Es ist deshalb wichtig, die digitale Teilhabe auch von älteren Menschen zu fördern.

 

Kontaktdaten
Dagmar Hirche
Lübecker Straße 1 Alstertower 5.Etage
22087 Hamburg

Telefon: 040 / 422 36 22 32
E-Mail: info@wegeausdereinsamkeit.de

Weitere Informationen finden Sie auf der Website www.wegeausdereinsamkeit.de und auf dem Youtube-Channel.