Gender, Digitalisierung und Gesundheit. Geschlechtersensible Gestaltung digitaler Gesundheitsförderung und -versorgung

Dr. Dr. Mo Urban Bremische Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF)

Gesundheit ist nicht geschlechtsneutral. Mit der Gendermedizin entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Bewusstsein dafür, dass die Gesundheitsversorgung von Frauen beeinträchtigt ist, wenn Männer die Norm sind: Mehrheitlich werden Medikamente an Männern getestet und es sind ihre Symptome, die Eingang in die Lehrbücher finden. Aus diesem Male Bias resultieren Mängel in der Versorgung, Therapie und Rehabilitation von Frauen (und natürlich auch von Inter- und Transpersonen).

Zu den bekannten Beispielen gehören kardiovaskuläre, vom Gefäßsystem und/oder vom Herz ausgehende, Erkrankungen, die lange als typische Männerkrankheit galten. Heute ist jedoch bekannt, dass sie auch bei Frauen zu den häufigsten Todesursachen zählen. Jahrzehntelang fanden die klinischen Studien ausschließlich an Männern statt. Die Diagnosen, Maßnahmen und Behandlungen wurden auf Frauen übertragen, trafen aber nicht im gleichen Maße zu. Dies hat neben starken Nebenwirkungen bei der medikamentösen Therapie auch bis heute zur Folge, dass bei Frauen Herzinfarkte häufiger verkannt werden und sie eine erhöhte Sterblichkeit haben.

Dieser gesundheitlichen Ungleichversorgung wird mittlerweile gegengesteuert: Seit 2011 dürfen Medikamente nicht mehr ausschließlich an Männern getestet werden und jüngst wurde Gendermedizin verpflichtend im Medizinstudium verankert. Langfristig soll damit der Gender Health Gap geschlossen und so die Wirksamkeit von Interventionen, Therapien etc. erhöht werden.

Handlungsbedarf für eine geschlechtersensible Perspektive

Betrachten wir zuerst die Transformation des Gender Health Gaps ins Digitale: Algorithmen unterstützen im medizinischen Bereich bei der Diagnose und bei der Behandlung. Algorithmen basieren auf gigantischen Mengen an Daten und werden daher als das Rückgrat der Künstlicher Intelligenz (KI) bezeichnet. Für eine qualitativ hochwertige KI ist die Qualität der Trainingsdaten, die darauf aufbauende Bildung der Algorithmen sowie die schließlich erfolgende Festlegung der Entscheidungen von Bedeutung. In den meisten Datensätzen sind Frauen jedoch unterrepräsentiert und/oder die Daten sind nicht differenziert nach Geschlecht. Somit trainiert die KI oftmals mit qualitativ wenig hochwertigen, da männerfokussierten, Daten. Infolge bewertet eine KI gestützte Anwendung Röntgenbilder in Hinblick auf krankhafte Veränderungen falsch oder eine automatisierte Entscheidungshilfe in einer Notrufzentrale verkennt den Herzinfarkt einer Frau. Ob Frauen in Datensätzen ausreichend repräsentiert sind bzw. welche Algorithmen der KI-Entscheidung zugrunde liegen, lässt sich anhand des Endergebnisses nicht mehr nachvollziehen.

Aber auch jenseits von auf Algorithmen basierenden Programmen, können Gesundheitsangebote durch eine fehlende geschlechtersensible Perspektive negative Auswirkungen haben. Ein Beispiel hierfür sind Gesundheitsplattformen, die Gesundheitstipps zu Verhaltensänderungen anbieten. In vielen Fällen ermöglichen sie den Nutzer*innen eigene Beiträge hochzuladen, die von anderen kommentiert werden können. Neben den gesundheitsförderlichen Aspekten eines solchen Austausches, provoziert dieses Angebot auch geschlechtsspezifische Gefahren, wie eine Untersuchung eines digitalen Angebots zu Adipositas zeigt: Herabwürdigende Kommentare überwiegen überproportional häufig die unterstützenden. Dies gilt vor allem für Videos, die von Frauen gepostet wurden. Die User, die die Herabwürdigungen posteten, waren hauptsächlich männlich.

Dass es an einer geschlechtersensiblen Perspektive bei digitalen Gesundheitsanwendungen fehlt, liegt unter anderem auch an der Zusammensetzung der Gruppe von Entwickler*innen der Programme und der Technik: In Deutschland sind nur 19 Prozent der Personen mit Expertenstatus in dem Bereich weiblich und nur ein Drittel aller Absolvierenden der Studiengänge Informatik, Ingenieurs- und Technikwissenschaften sind Frauen. Somit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Entwickelnden Wissen über oder Erfahrungen mit den Bedürfnissen der Nutzer*innengruppen haben.

Aber diesem Status Quo wird entgegengewirkt. Einerseits haben sich Zusammenschlüsse wie Women in Health IT und das deutsche Netzwerk SheHealth – Women in Digital Health gegründet. Aber auch Netzwerke aus dem Bereich der Gesundheit, wie der Arbeitskreis Frauengesundheit e.V. (AKF), bilden entsprechende neue Arbeitskreise mit dem Schwerpunkt auf Digitalisierung. Zudem ist eine Sensibilität gegenüber geschlechtergerechter Digitalisierung in der Politik erkennbar. So nimmt beispielsweise der dritte Gleichstellungsbericht der Bundesregierung auch den Bereich der digitalen Gesundheitsversorgung auf. Und Mittelgeber steuern gegen, in dem sie neben der Geschlechterförderung auch partizipatorische und teilhabeorientierte Entwicklungsprozesse sowie die Förderung von Gender- und Diversitätskompetenzen in Forschungs- und Entwicklungsteams zur Voraussetzung einer Förderung machen oder zumindest honorieren.

Zukünftige Handlungsansätze

Dennoch bleibt für eine geschlechtergerechte Digitalisierung im Gesundheitswesen noch viel zu tun. Hilfreich wäre die Festlegung von Qualitätsstandards für geschlechtersensible Gesundheits- und Medizin-Technologien sowie für weitere Gesundheitsangebote. Beispielsweise könnte an die Zulassungen von digitalen Gesundheitsanwendungen nach dem Digitale-Versorgung-Gesetz und der Digitalen-Gesundheitsanwendungen-Verordnung Kriterien der Geschlechtergerechtigkeit geknüpft werden.

Zudem bedarf es einer kontinuierlichen Überwachung von eHealth-Angeboten, wobei auch die Nutzung und Anwendung von digitalen Prozessen in actu zu evaluieren sind, um die Datenlage über geschlechterbezogene Diskriminierung zu verbessern. Auf dieser Grundlage sind passende Maßnahmen zu entwickeln und dadurch langfristig die gesundheitliche Ungleichheit zu reduzieren.

Außerdem profitiert die Technikgestaltung von gendersensiblen und diversitätsorientierten Ansätzen für die Entwicklungen von diskriminierungsfreien Datensätzen und Algorithmen sowie möglichst barrierearmer Soft- und Hardware. Und auch partizipative und teilhabeorientierte Entwicklung von Gesundheitstechnologien und digitalen Gesundheitsangeboten wie Foren oder Websites sind sinnvolle Schritte auf dem Weg zur Schließung eines digital gender health gaps.


Kontakt
Dr. Dr. Mo Urban (promovierte Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin)
E-Mail: monika.urban@frauen.bremen.de
Referentin für Gesundheit und Wissenschaft

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