Wer offline ist, ist ausgegrenzt!

Prälat Dr. Peter Neher Präsident des Deutschen Caritasverbandes

Die Pandemie-Monate werden vielen als Monate vor dem Bildschirm in Erinnerung bleiben – statt Besprechungen mit Kolleg*innen und Dienstreisen: Video-Konferenzen am Fließband; statt Unterricht im Klassenraum: Arbeitsblätter auf der Cloud; statt Kinoabend: Streamingdienst von der heimischen Couch aus. Welch ein Glück, dass es diese Möglichkeiten alle gab und gibt! Auch einen Teil unserer sozialen Angebote und Dienstleistungen haben wir in der Caritas in die Online-Welt verlagert: Seit März 2020 haben sich über 2.000 Berater*innen der Caritas zusätzlich für die Online-Beratung schulen lassen, diese hat einen regelrechten Boom erlebt gerade in den Monaten, in denen die analogen Beratungsstellen geschlossen bleiben mussten.

Wer aber schon vor Corona keinen oder nur spärlichen Zugang zur digitalen Welt hatte, hat noch härter zu spüren bekommen, welche Grenzen dies dem eigenen Leben setzt. Wie halte ich Kontakt zu Behörden und Ämter, wenn sich nur noch digital mit ihnen kommunizieren lässt, ich aber nicht im Internet unterwegs bin? Das ist gerade für Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, eine drängende Frage. Wie buche ich beispielsweise meinen Impftermin? Wie können die Kinder am Unterricht teilnehmen, wenn die entsprechenden Geräte oder der Internet-Zugang überhaupt fehlen? In zahlreichen Familien gibt es Handys, aber PCs und Tablets sind Fehlanzeige, ein Drucker sowieso.

Digitale Teilhabe ist Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe

Dass digitale Teilhabe eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche und soziale Teilhabe ist, war uns in der Caritas schon lange bewusst. Im Jahr 2019 haben wir dieser Problematik unter dem Motto „sozial braucht digital“ eine Jahreskampagne gewidmet. Dass die Digitalisierung in allen Lebensbereichen durch eine Pandemie einen riesigen Schub erleben würde, konnten wir nicht ahnen. Dass ausgegrenzt wird, wer offline ist, war damals schon absehbar.

Immerhin: In den vergangenen Monaten scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass es hier Handlungsbedarf gibt. Gerade im Bereich Bildung wurde schnell klar, dass vielen Familien bei der Ausstattung mit Geräten unter die Arme gegriffen werden muss. Die Pandemie hat auch das Bewusstsein dafür geschärft, dass alle, unabhängig von ihrem Wohnort, auf ein leistungsfähiges Netz angewiesen sind.

Was mich dabei stört: Der Fokus liegt bei den Diskussionen oft sehr auf der technischen Ausstattung und zu wenig auf den Kompetenzen, die man braucht, um sich im digitalen Umfeld sicher zu bewegen. Was nützen einer mehrköpfigen Familie das von der Schule ausgeliehene Laptop und das schnelle Internet, wenn keiner wirklich weiß, wie damit umzugehen? Oma mag mit einem Smartphone ausgestattet sein, um trotz Besuchsverbot Kontakt mit ihren Liebsten zu halten – das klappt aber nur, wenn sie weiß, wie sie es zu bedienen hat. Digitale Bildung ist hier der Schlüsselbegriff.

Niederschwellige Angebote

An vielen Stellen wissen die Menschen sich zu helfen. Für die mit Smartphone ausgestattete Oma gibt es zum Beispiel von der youngcaritas, unserer Plattform für das Engagement junger Menschen, „Smartphone-Sprechstunden“ an mehreren Standorten: Junge Menschen bringen Älteren den richtigen Umgang mit ihrem Gerät bei. Während der Pandemie lief die Sprechstunde weiter – per Telefon. Die „Smartphone-Sprechstunde“ ist das perfekte Beispiel für die Art niederschwelliger Angebote, die wir im digitalen Bereich dringend brauchen.

Es kann aber nicht sein, dass Ehrenamtliche für die digitale Bildung zuständig sind. Es braucht auch als integraler Bestandteil des Bildungs- und Weiterbildungssystems ausreichende Bildungsmöglichkeiten im Digitalen sowohl für Kinder als auch speziell für langzeiterwerbslose, niedrigqualifizierte und ältere Menschen und genauso für Menschen mit Migrationshintergrund.

Mit digitaler Bildung ist nicht nur der Umgang mit bestimmten Programmen gemeint. Es braucht Einiges, um sich in der digitalen Welt sicher und souverän zu bewegen – was wiederum die Voraussetzung für Teilhabe ist. Welche Informationsquellen sind vertrauenswürdig? Welchen Gefahren begegne ich potenziell (Stichwort Cybergrooming oder Mobbing) und wer hilft mir dann? Was tun, wenn die Online-Welt mein Leben bestimmt? Nicht umsonst hat sich die Online-Sucht in den vergangenen Jahren zu einem Schwerpunkt unserer Suchtberatung entwickelt.

Der anwaltschaftliche Kampf um digitale Chancengerechtigkeit – nicht nur beim Zugang sondern auch beim Umgang mit der digitalen Welt – ist eindeutig eine Kernaufgabe für die Caritas und alle Wohlfahrtsverbände.

Soziale Akteure als Treiber der Digitalisierung

Wir sind aber auch Initiatoren der Digitalisierung – ich denke zum Beispiel an den Einsatz von Robotik in der Pflege oder in der Behindertenhilfe, der in zahlreichen Pilotprojekten weiterentwickelt wird. Oder an Projekte, welche die Beratung mittels Künstlicher Intelligenz noch passgenauer und auf die Bedürfnisse der Klient*innen zugeschnitten machen sollen.

Deshalb ist es wichtig, dass die Politik beim Thema Digitalisierung den sozialen Bereich noch mehr im Blick hat – nicht nur die Wirtschaft und die Wissenschaft. „Im Blick haben“ ist oft ein Euphemismus für die Bereitstellung von Finanzmitteln und darum geht es auch hier. Akteure der Sozialwirtschaft, gerade im gemeinnützigen Bereich, können innovative Angebote nicht „einfach so“ finanzieren – seien es digitale Angebote zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Pflege, Beratung, oder Angebote, die den Menschen das Digitale näherbringen.

Wenn die Politik es ernst meint mit der Digitalisierung – dieses Versprechen kommt derzeit praktisch in allen Parteiprogrammen vor -, dann muss das Soziale eine wesentliche Säule davon sein.

Prälat Dr. Peter Neher
Präsident des Deutschen Caritasverbandes


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