Gegen Ende der Grundschule, also ab dem Alter von ca. 10 Jahren, bekommen viele Kinder ein eigenes Smartphone. Neben Messengern werden dann auch Social-Media-Plattformen für Kinder interessant. Hoch im Kurs stehen bei älteren Kindern und Jugendlichen die Videoplattformen YouTube, TikTok sowie das bildorientierte Instagram.1
Austausch mit Freund*innen
Auf Social-Media-Plattformen präsent zu sein ist für ältere Kinder und Jugendliche wichtig, um sich mit Freund*innen auszutauschen, an deren Alltag teilzuhaben und mitzubekommen, was in der Peergroup angesagt ist.2 Für viele gehört dazu auch, ein eigenes Profil zu pflegen, selbst Posts zu verfassen und Fotos oder Videos zu präsentieren. So können sie den anderen die eigenen Vorlieben und Interessen zeigen, ihnen Gedanken, Gefühle und Alltagserlebnisse mitteilen. Während YouTube von den meisten Kindern und Jugendlichen vorwiegend rezeptiv genutzt wird, laden sie auf TikTok und vor allem Instagram häufiger eigene Inhalte hoch.
Die Schokoladenseiten zeigen
Die eigene Person und das eigene Leben von der attraktivsten Seite zu zeigen sowie die Fähigkeiten herauszustellen, beispielsweise im Gaming, Styling oder Sport, ist dabei üblich; zumal dies auch der Praxis vieler Social-Media-Stars entspricht, an denen sich Jugendliche in ihrer Selbstdarstellung durchaus orientieren. Einige träumen – zumindest vorübergehend – sogar davon, selbst eine große Schar von Follower*innen aufzubauen und auf diesem Weg Einnahmen zu generieren, wenn nicht gar das Hobby zum Beruf zu machen.3
Negatives Feedback ist nicht selten
Aber auch ohne Popularitätsstreben und Star-Ambitionen kann die Resonanz, die Heranwachsende auf ihre Social-Media-Selbstdarstellung in Form von (Dis-)Likes und Kommentaren erhalten oder auch ihr Ausbleiben, höchst wichtig für sie sein.
Feedback von Freund*innen und der Plattformöffentlichkeit, das sich auf das eigene Aussehen, das Experimentieren mit Persönlichkeitsfacetten oder auf andere identitätsrelevante Inhalte bezieht, kann das Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl beeinflussen – positiv wie negativ.
So weisen junge Nutzer*innen von TikTok, die im Rahmen einer qualitativen Studie befragt wurden4 darauf hin, dass TikTok-Videos besonders häufig kritisch und nicht selten ausgesprochen verletzend kommentiert werden. Kritisiert werde zum Beispiel mangelhaftes Können bei der Umsetzung von Tanz- oder Lip-Sync-Videos. Aber auch Körpermaße, Kleidung und unkonventionelles Aussehen würden häufig mit spott- oder hasserfüllten Kommentaren herabgesetzt. So beschreibt eine dreizehnjährige Befragte, dass mit Hate bestraft werde, „[…], wenn du nicht perfekt gestylt bist oder so und dich mal irgendwie normal anziehst.“ Allerdings könne, so eine andere 13-Jährige, jede*r ohne nachvollziehbaren Grund zur Zielscheibe von Hate werden, so dass es einigen Befragten unvorhersehbar erscheint „... auf wen sich eingeschossen wird.“
Konformitäts- und Selbstoptimierungsdruck
Nicht nur das Aussehen, auch abweichendes Verhalten und abweichende Identitäten werden sanktioniert. Ein von einer Zwölfjährigen beschriebenes Beispiel bezieht sich auf die Abwertung einer ‚zweifachen‘ Nonkonformität: Eine Transperson (männlich zu weiblich) werde in Kommentaren herabgewürdigt, weil sie das weibliche Schönheitsideal nicht erfülle. „Ja also, wenn du schon eine Frau sein willst, dann sollst du dich auch pflegen“, zitiert das Mädchen einen Kommentar.5 Der Umstand, dass Abweichungen von Geschlechterstereotypen plattformöffentlich sanktioniert werden, kann einen hohen Konformitätsdruck erzeugen, der die Persönlichkeitsentwicklung eher einschränkt als unterstützt, wenn er nicht reflektiert und produktiv verarbeitet wird.6
Neben der Kränkung, die die direkten Zielpersonen durch abwertende Kommentare erfahren, ist auch die indirekte Botschaft an die Beobachter*innen solcher Kommunikation bedeutsam. So versuchen die in der Studie befragten Heranwachsenden in ihrer Selbstdarstellung und der Produktion der Videos alle Peinlichkeiten und jeglichen Anlass für Kritik und Hate von vornherein zu vermeiden, auch wenn sie selbst bisher noch nicht zur Zielscheibe wurden.
Die Verführung, für eine optimierte Selbstdarstellung auf Effekte und Filter zurückzugreifen, um beispielsweise das Körperbild dem angestrebten Schönheitsideal anzupassen, ist daher hoch.7 Auch diese Praxis hat Bedeutung für die Rezipient*innen: Werden Fotos den gängigen geschlechterstereotypen Körperidealen entsprechend bearbeitet, kann das bei rezipierenden Kindern und Jugendlichen ein Streben nach Selbstoptimierung auslösen und verstärken sowie die eigene Selbstwahrnehmung verändern und zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führen. Götz und Prommer8 führen in diesem Zusammenhang eine Reihe von Studien zu Facebook an, die ein spontanes Einhergehen des Betrachtens von Bildern schlanker Frauen mit einer gesteigerten Kritik an und Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper nachweisen. Allerdings sind Jugendliche hier auch kritikfähig.
Soziale Vergleichsprozesse und gesundheitskritische Körperbilder
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass soziale Vergleichsprozesse bei der Nutzung von Social-Media-Plattformen stattfinden.9 Da kann neben den auf Instagram präsentierten Glanzlichtern aus dem Leben der anderen das eigene Dasein trist und wertlos erscheinen.
Problematisch wird Perfektionsdruck auf Social-Media-Plattformen vor allem auch dann, wenn Kinder und Jugendliche in ihren Selbstinszenierungen gesundheitskritische Körperideale aufgreifen,
etwa wenn sie bemerken, dass Untergewichtigkeit oder Hypersportlichkeit idealisiert werden (z. B. Thigh-Gap- oder Bikini-Bridge-Fotos, Muskelposing), und dies in sozialen Online-Netzwerken Bestätigung erfährt.10 Oder wenn Influencer*innen gar riskante Mittel propagieren, um solchen Idealen zu entsprechen. So weisen in einer Studie mit Zehn- bis Zwölfjährigen mehrere Teilnehmende darauf hin, dass die Youtuberin Dagi Bee ein Schlankheitspräparat beworben habe: „Ich habe es auf YouTube gesehen, [da] hat sie gesagt, dass sie zwei Kilo abnehmen will und dafür K-Blocker nehmen will. [...] Und sie sagt halt, sie/ immer, wenn sie halt Lust auf einen Burger hat, nimmt sie hinterher dieses K-Blockpulver, was nicht sehr gesund ist“ (Mädchen, 12 Jahre).11
Schutz vor negativen Reaktionen
Junge Plattformnutzer*innen kennen verschiedene Strategien, um sich vor negativen Reaktionen zu schützen, wie sich am Beispiel der TikTok-Nutzer*innen zeigen lässt. So können beispielsweise mit TikTok erstellte Videos auf der Plattform als Entwurf gespeichert werden ohne sie anderen zugänglich zu machen. TikTok-Funktionen, wie z. B. eine Auswahl an Musiktiteln oder Filtern, können somit genutzt werden ohne sich der Öffentlichkeit auszusetzen. Damit ist jedoch auch die Möglichkeit des positiven Feedbacks auf unmittelbare Offline-Kontakte begrenzt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Privatsphäre-Einstellungen zu nutzen. Dies ist allerdings nur um den Preis eingeschränkter Funktionen möglich. Zudem, so wissen die Befragten, hätten die einzelnen TikToker*innen selbst bei auf privat gestellten Profilen und Videos keine wirkliche Kontrolle darüber, wer möglicherweise Videos herunterlade oder mithilfe eines weiteren Smartphones vom Bildschirm abfilme und anschließend weiterverbreite, etwa um sich darüber lustig zu machen. Dies sei auch durch ein späteres Löschen von veröffentlichten Videos nicht zu beheben.
Die Nutzung von Privatsphäre-Einstellungen und das Nicht-Veröffentlichen lässt sich also nicht gut mit der Motivation der Jugendlichen vereinbaren,
mit anderen TikTok-Nutzenden zu kommunizieren, denn Videos sind ein Anknüpfungspunkt für den Nachrichtenaustausch. Der ist insbesondere mit näheren und entfernteren Bekannten aus dem sozialen Umfeld erwünscht, weshalb die Befragten Apps schätzen, die „alle“ haben. Je größer die anvisierte Öffentlichkeit, desto mehr raten also die befragten TikTok-Nutzer*innen dazu, möglichst wenig von der eigenen Person preiszugeben.
Person- und angebotsbezogene Prävention
Unter präventiver Perspektive ist es also sinnvoll, die Orientierung der Heranwachsenden auf den Plattformen zu fördern. Dies betrifft beispielsweise Kenntnis von Funktionen und Konsequenzen unterschiedlicher Privatsphäre-Einstellungen. Darüber hinaus finden sich in den Schilderungen der befragten TikToker*innen zahlreiche Punkte, von denen ausgehend die Heranwachsenden in der Reflexion ihrer Selbstpräsentations- und Kommunikationsbedürfnisse und ihres plattformbezogenen Handelns unterstützt werden können. Mit den Heranwachsenden kann erarbeitet werden, wie sie – soweit dies im gegebenen Rahmen der Plattform möglich ist – ihre konfligierenden Bestrebungen auf kreative Weise in Einklang bringen können, so etwa durch geschickte Strategien im Umgang mit Hate.
Die (Des-)Orientierungsangebote, die sich auf den Plattformen in Bezug auf Körperbilder und Geschlechterrollen finden lassen, bieten sich auch dafür an, mit Kindern und Jugendlichen über Schönheits- und Rollenideale ins Gespräch zu kommen,
um mit ihnen daran zu arbeiten, welche Bedeutung Ideale, Bewertungen und (Selbst-)Akzeptanz für ein gesundes und selbstbestimmtes Leben haben.
Zum anderen erscheint es sinnvoll, die jungen Nutzenden nach ihren Ideen zu fragen, wie die Funktionen einer solchen Plattform beschaffen sein müssten, damit sie ihren Bedürfnissen gerecht werden können. Hier sind also Plattformlösungen gesucht, die Heranwachsenden die gewünschte kreative und kommunikative Betätigung bei gleichzeitig ausreichendem Schutz vor Hate und Belästigung schaffen. Die im öffentlichen Diskurs aus einer Erwachsenenperspektive geforderten, häufig bewahrpädagogisch orientierten Lösungen, wie beispielsweise eine Heraufsetzung von Mindestaltersgrenzen, sind nicht immer diejenigen, die auch die Heranwachsenden weiterbringen. Inwieweit die altersbezogenen Voreinstellungen, die TikTok mittlerweile vorgenommen hat und die dem Schutz dienen sollen12, den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen entsprechen, konnte in der hier zugrundeliegenden Studie13 noch nicht berücksichtigt werden. Melden sich beispielsweise unter-16-Jährige nun mit ihrem korrekten Alter an, sind etwa Direktnachrichten nicht verfügbar. Allerdings wird die Altersangabe, die Kinder und Jugendliche bei der Anmeldung machen, von TikTok nicht überprüft. Dazu, wie die Kinder und Jugendlichen unter diesen Bedingungen agieren, ergibt sich also weitergehender Forschungsbedarf.
Literatur
1Feierabend, Sabine/Rathgeb, Thomas/Kheredmand, Hediye/Glöckler, Stephan (2020a). JIM-Studie 2020. Jugend, Information, Medien. https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2020/JIM-Studie-2020_Web_final.pdf.
2Feierabend, Sabine/Rathgeb, Thomas/Reutter, Theresa/ (2020b). JIM-Studie 2019. Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Herausgegeben vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest. Stuttgart. http://www.mpfs.de/studien/jim-studie/2019.
3Gebel, Christa/ Oberlinner, Andreas/ Stecher, Sina/Brüggen, Niels (2019): „Ja, die großen Youtuber, die dürfen eigentlich machen, was sie wollen.“ Orientierung von 11- bis 14-Jährigen auf YouTube. ACT ON! Short Report Nr. 5. Ausgewählte Ergebnisse der Monitoringstudie. München: JFF. https://www.jff.de/veroeffentlichungen/detail/orientierung-youtube-act-on-short-report-5.
4Stecher, Sina/Bamberger, Anja/Gebel, Christa/Cousseran, Laura/Brüggen, Niels (2020). "Du bist voll unbekannt!". Selbstdarstellung, Erfolgsdruck und Interaktionsrisiken auf TikTok aus Sicht von 12- bis 14-Jährigen. Ausgewählte Ergebnisse der Monitoring-Studie. München. https://www.jff.de/veroeffentlichungen/detail/selbstdarstellung-erfolgsdruck-interaktionsrisiken-tiktok-act-on-short-report-7.
5Stecher, Sina/Bamberger, Anja/Gebel, Christa/Cousseran, Laura/Brüggen, Niels (2020). "Du bist voll unbekannt!". Selbstdarstellung, Erfolgsdruck und Interaktionsrisiken auf TikTok aus Sicht von 12- bis 14-Jährigen. Ausgewählte Ergebnisse der Monitoring-Studie. München. https://www.jff.de/veroeffentlichungen/detail/selbstdarstellung-erfolgsdruck-interaktionsrisiken-tiktok-act-on-short-report-7.
6Koschei, Franziska (2021, im Erscheinen) GenderONline. Geschlechterbilder und Social Media zum Thema machen. Wissenschaftliche Grundlegung für die Entwicklung von Arbeitshilfen für die Jugendsozialarbeit an Schulen. Aufarbeitung des aktuellen Forschungsstands. Arbeitspapiere aus der Forschung #2. Herausgegeben vom JFF. www.jff.de/veroeffentlichungen.
7Pescott, Claire Kathryn (2020) “I Wish I was Wearing a Filter Right Now”: An Exploration of Identity Formation and Subjectivity of 10- and 11-Year Olds’ Social Media Use. In: Social Media + Society, Vol. 6, Nr. 4, https://doi.org/10.1177/2056305120965155.
8Götz, Maya/Prommer, Elizabeth (2020). Geschlechterstereotype und Soziale Medien. Expertise für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Berlin. https://geschlechtersensible-paedagogik.de/wp-content/uploads/2021/02/Expertise-Geschlechterstereotype-Soziale-Medien-2020.pdf.
9Frison, Eline/Eggermont, Steven (2016) “Harder, Better, Faster, Stronger”: Negative Comparison on Facebook and Adolescents' Life Satisfaction Are Reciprocally Related. In: Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking. Vol. 19, No. 3, https://doi.org/10.1089/cyber.2015.0296.
10Hajok, Daniel/Zerin, Franziska (2015): Identitätsbildung im Netz. Selbstdarstellung weiblicher Heranwachsender auf Foto- und Videoplattformen. In: tv diskurs, 19 (2), S. 64-67.
Trunk, Janine (2016): Der Körper als Baustelle. (Selbst-)Optimierung und riskantes Schönheitshandeln im Jugendalter. In: ProJugend, (2), S. 23-26
11Oberlinner, Andreas/Stecher, Sina/Gebel, Christa/Brüggen, Niels (2020). „Wenn er nicht in die Kamera schaut, … ist es eine Lüge.“. Glaubwürdigkeit von YouTube-Videos aus Sicht von 10- bis 12-Jährigen. ACT ON! Short Report Nr. 6. Ausgewählte Ergebnisse der Monitoringstudie. https://www.jff.de/veroeffentlichungen/detail/glaubwuerdigkeit-youtuberinnen-act-on-short-report-6.
12Glaser, Stefan (2021): Praxis Info TikTok. Kinder und Jugendliche für Risiken sensibilisieren. Hg. von jugenschutz.net. Online verfügbar unter https://fis.jugendschutz.net/fileadmin/user_upload/Snippet_News_Dokumente/PraxisInfo_TikTok_2021.pdf
13Stecher, Sina/Bamberger, Anja/Gebel, Christa/Cousseran, Laura/Brüggen, Niels (2020). "Du bist voll unbekannt!". Selbstdarstellung, Erfolgsdruck und Interaktionsrisiken auf TikTok aus Sicht von 12- bis 14-Jährigen. Ausgewählte Ergebnisse der Monitoring-Studie. München. https://www.jff.de/veroeffentlichungen/detail/selbstdarstellung-erfolgsdruck-interaktionsrisiken-tiktok-act-on-short-report-7.
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